Sütterlin
 
 

„Wer kann diese Schrift noch lesen?“

Nicht mehr viele Menschen in Deutschland. Wer aber noch sehr alte (Ur-)Großeltern in der Familie hat, könnte Glück haben: Sie haben die „Sütterlinschrift“ in den 20er oder 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in der Schule gelernt. Entwickelt wurde diese Ausgangsschrift für das Erlernen der Schreibschrift im Jahr 1911 von dem Grafiker Ludwig Sütterlin. Er kam 1865 in Lahr zur Welt und zog als junger Mann nach Berlin. Unzählige Dokumente, die bis heute erhalten sind, wurden in der Sütterlinschrift verfasst, darunter natürlich auch viele Alltagstexte wie Schulaufsätze, Tagebücher, Briefe oder Feldpost.
Die Zeitzeugen-AG hat sich ein besonders Schriftstück vorgenommen, um die Sütterlinschrift zu „übersetzen“: einen Auszug aus dem sogenannten „Familien- und Heimatbüchlein“ einer Zeitzeugin (Jg. 1928). Sie ging in den 30er Jahren in Bodersweier in die Volksschule. Dort führten die Kinder ein „Familien- und Heimatbüchlein“, in dem sie laufend besondere Ereignisse des Dorflebens festhielten.
Der Abschnitt, den die AG-Schülerinnen übertrugen, demonstriert, wie viel Zeitgeschichte in Alltagstexten stecken kann: So wurde den damaligen Schülern auch in ihr Heft diktiert, was sie selbst als Kinder und Jugendliche kurz zuvor häufig unmittelbar miterlebt hatten:

„Nov. 38. Hausdurchsuchung bei den Juden. Männer in ein Konzentrationslager bei Dachau.“
„Nov. 38. Hausdurchsuchung bei den Juden. Männer in ein Konzentrationslager bei Dachau.“


Hinter diesem Eintrag verbirgt sich die Reichspogromnacht am 9./10. November. An diesem Tag wurden auch in Bodersweier die jüdischen Männer gedemütigt und misshandelt, die jüdischen Geschäfte geplündert und zerstört und die Synagoge im Dorf verwüstet.
Auch die Deportation der verbliebenen jüdischen Einwohner aus Bodersweier ins südfranzösische Internierungslager Gurs (am 22. Oktober 1940) hielten die Volksschulkinder in ihrem Büchlein fest:

„Endgültige Abschiebung aller Juden […] 1940. Vorläufiger Aufenthalt Pyrenäen. Versteigerung des Hausrats März 1941.“
„Endgültige Abschiebung aller Juden […] 1940. Vorläufiger Aufenthalt Pyrenäen. Versteigerung des Hausrats März 1941.“


Auch wenn die Sprache die tatsächlichen Vorgänge verharmlost, wird doch deutlich, dass die Ereignisse damals keine geheime Staatssache, sondern öffentlich bekannt waren und sogar von den Schulkindern im Dorf als besonderes Ereignis jeweils festgehalten wurden.„Vorläufig“ war die „Abschiebung“ der Juden insofern, als viele von den nach Gurs deportierten Menschen später weiter in die Todeslager im Osten transportiert und ermordet wurden.Die Sütterlinschrift überlebte das „Dritte Reich“ auch nicht. Im Jahr 1941 wurde sie von dem NS-Regime per Erlass abgeschafft mit folgender (nachweislich falschen, rassistisch motivierten) Begründung: Die Schrift habe einen jüdischen Ursprung.

[HBR]