Stolpersteinverlegung für „Euthanasie“-Opfer Alfred Rapp

Der Stolperstein, der in der Hauptstraße 104 diesen Donnerstag verlegt wurde, ist ein besonderer. Zum ersten Mal wird mit ihm in der Kernstadt an die NS/„Euthanasie“-Morde gedacht, denen mindestens 40 Kehler Einwohner zum Opfer fielen. Beinah alle der Opfer wurden im Jahr 1940 in der Tötungsanstalt Grafeneck in der Gaskammer ermordet, nachdem man sie aus verschiedenen Anstalten in grauen Bussen abgeholt hatte.

Mit Alfred Rapp traf es dabei einen Veteranen des Ersten Weltkriegs, der im Jahr 1888 geboren wurde. Noch heute kann man in der Kriegsstammrolle des Infanterie-Regiments Nr. 170 die Vielzahl von Schlachten nachlesen, an denen er an der Westfront teilnehmen musste. Eines der wenigen weiteren Dokumente, die auf sein Schicksal hinweisen, ist das Hauptkrankenbuch der Pflegeanstalt Rastatt. Dort ist vermerkt, dass Alfred Rapp im Mai 1938 eingeliefert wurde. Nach den traumatischen Kriegserlebnissen, der eigenen Verwundung und Kriegsgefangenschaft fand er nie wieder ganz zurück ins Leben. Er galt als psychisch krank – und geriet in der NS-Zeit in die Mordmaschinerie der „Aktion T4“.

Von 1939 bis 1945 wurden im Deutschen Reich und im besetzten Europa weit über 200.000 Menschen ermordet, die von menschenverachtenden NS-Ärzten als geistig behindert oder psychisch krank eingestuft wurden. Die Opfer waren wie Alfred Rapp Patientinnen und Patienten von Psychiatrien, Heilanstalten und Pflegeheimen, Kinder und Erwachsene in jedem Alter, Menschen aus allen Schichten. Für die nationalsozialistische Führung waren diese schwächsten Mitglieder der Gesellschaft bereits vor Kriegsbeginn ein entbehrlicher Teil der sogenannten Volksgemeinschaft: Die kranken Menschen passten nicht zur NS-Ideologie vom „gesunden Volkskörper“ und gerade für die Kriegswirtschaft galten die Pflegebedürftigen als unproduktiv und finanzielle Belastung. Die systematische Ermordung der Heimbewohner wurde mit der Bezeichnung „Euthanasie“ oder „Gnadentod“ verharmlost. 

Alfred Rapp wurde am 31. Mai 1940 mit 70 weiteren Patienten von der Anstalt Zwiefalten (wohin die Pflegeanstalt Rastatt verlegt worden war) nach Grafeneck transportiert. Er ist am gleichen Tag dort in der Gaskammer wie alle anderen ermordet worden. Die Leichen hat man schnell eingeäschert. In einem eigens dafür geschaffenen Standesamt hat man in die Sterbeurkunde eine gefälschte Todesursache eingetragen, dazu ein falsches Todesdatum und manchmal auch gefälschte Todesorte. In einer Abteilung für Trostbriefe hat man den Angehörigen standardisierte Mitteilungen geschrieben und sie weiter getäuscht. Der Bruder von Alfred Rapp suchte nach dem Erhalt der Sterbeurkunde das Amtsgericht auf, um Aufklärung über das Schicksal seines Angehörigen zu verlangen. Man hat ihn warnend abgewiesen.

Bei der Verlegung des Stolpersteins vor dem Café Rapp waren Angehörige der Familie Rapp ebenso zugegen wie Oberbürgermeister Toni Vetrano, der in seiner Ansprache die Bedeutung der Erinnerungsarbeit hervorhob und der Familie Rapp für ihre Offenheit im Umgang mit dem Schicksal ihres Angehörigen dankte. Während der Künstler Gunter Demnig den Stolperstein in das Pflaster einließ, präsentierten die Zeitzeugen-AG  und Schülerinnen und Schüler der Klassen 10a und 9a die Biographie von Alfred Rapp im Zuge der damaligen Geschehnisse in einer szenischen Lesung. Lea Balzar (Klasse 10a) und Geigenlehrer Michael Klett gaben der Verlegung mit ihren Violin-Duetten einen würdevollen musikalischen Rahmen. Mit persönlichen Worten der Großnichte von Alfred Rapp endete die Zeremonie.

Wer vor dem Café in der Hauptstraße 104 steht, wird nun im Pflaster an Alfred Rapp erinnert, der vor knapp 80 Jahren einem staatlich organisierten Massenmord zum Opfer fiel — das Verbrechen traf die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft. 

[HBR]