Géraldine Schwarz spricht am „Einstein“ über ihre Familiengeschichte

„Die Gedächtnislosen. Erinnerungen einer Europäerin“, so lautet der Titel eines autobiographischen Sachbuchs/Essays von Géraldine Schwarz, das ein literarischer Erfolg besonders in Frankreich und Deutschland war – den beiden Ländern, mit denen die Biografie und Familiengeschichte von Géraldine Schwarz eng verknüpft sind. Die deutsch-französische Journalistin, Schriftstellerin und Dokumentarfilmerin setzt sich in „Les Amnésiques“ mit der Verstrickung der eigenen Großelterngeneration in Zeiten des „Dritten Reichs“ auseinander. Besonders in den Blick nimmt Géraldine Schwarz dabei das sogenannte „Mitläufertum“, ein Begriff, den es beinah nur in der deutschen Sprache gibt und der auf Personen angewendet wird, die bei etwas mitmachen, ohne sich dabei besonders zu engagieren, bzw. die eine passive Rolle spielen. Gerade in dieser kritischen Masse, die weder das NS-Regime enthusiastisch unterstützte noch sich der menschenverachtenden Politik nennenswert widersetzte, sieht Schwarz einen Schlüssel zum Verständnis für die damaligen Entwicklungen – und zur späteren Aufarbeitung in der Bundesrepublik und Frankreich.

Denn „Die Gedächtnislosen“ handelt in zentralen Kapiteln insbesondere von der Frage, wie Menschen mit ihrer Rolle und Mittäterschaft in der NS-Zeit später umgegangen sind. Es geht somit auch um die Nachgeschichte des „Dritten Reichs“, die gesellschaftliche Aufarbeitung der NS-Verbrechen und den Verlauf der Erinnerungskultur insbesondere in Deutschland und Frankreich. Beispielhaft geschieht diese Auseinandersetzung im Buch an den Großvätern von Géraldine Schwarz.

Der Großvater väterlicherseits erwarb im Rahmen der sogenannten „Arisierung“ ein jüdisches Unternehmen in Mannheim. Ein Bewusstsein dafür, dass dieser Vorgang ein Unrecht darstellte, an dem er beteiligt war, lag bei Karl Schwarz nicht vor. Die Vergangenheit holte ihn allerdings ein, als der einzige Überlebende der jüdischen Fabrikantenfamilie, Julius Löbmann, nach dem Krieg Entschädigungszahlungen (Reparationen) für das ‚arisierte‘ Unternehmen forderte. Géraldine Schwarz las aus einem Brief vor, den Karl Schwarz persönlich an Löbmann schrieb, um die Ansprüche auf eine für die damalige Zeit nicht untypische Weise abzuwenden:

Die wirtschaftlichen Verhältnisse sind ja bei uns ganz trostlos. Ich glaube, Sie machen sich ganz falsche Vorstellungen vom Umfang unseres Geschäftes.

Und sein Brief endet mit den Zeilen:

„Wie geht es Ihrer Familie? Hoffentlich ist hier auch alles wohlauf? Meine Frau wurde dieses Jahr bereits 2-mal an Darmgeschwüren operiert und muss sich im September einer weiteren Operation unterziehen. So ist immer etwas.“

Die Schüler*innen der J1 erkannten, dass hier jemand in die Opferrolle schlüpfen und möglichst Mitleid hervorrufen wollte, um die berechtigten Reparationsansprüche abzuwehren. Diese „Mitleidskarte“, wie es eine Schülerin nannte, zog allerdings nicht, sodass die Angelegenheit schließlich juristisch entschieden werden musste.

Auch die französischen Großeltern mütterlicherseits untersucht Géraldine Schwarz in „Die Gedächtnislosen“ und befasst sich so etwa mit dem französischen Großvater, der als Gendarm in den Diensten des „Vichy-Regimes“ tätig war, das mit dem nationalsozialistischen Deutschland zusammenarbeitete.

In der Veranstaltung in der Schulbibliothek ging Géraldine Schwarz auch ausführlich auf die neueren populistischen Entwicklungen in Europa ein und deren erinnerungspolitische Implikationen. So lautet eine zentrale These ihres Buchs, dass Rechtspopulismus besonders dort gut gedeiht, wo die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht oder nicht ausreichend stattgefunden hat. Hier macht die Autorin auch einen deutlichen Unterschied aus zwischen der langanhaltenden Tabuisierung der Kollaboration in Frankreich und der aus ihrer Sicht deutlich positiver zu bewertenden Erinnerungskultur in Deutschland (die sich auch in der unterschiedlichen Stärke von AfD und dem „Rassemblement National“ widerspiegeln würde). Wiederholt betonte Géraldine Schwarz die Bedeutung eines europäischen Wertefundaments, das sich auf eine offene, verantwortungsbewusste Erinnerungskultur stützen muss. Dass sie mit der Erforschung ihrer eigenen Familiengeschichte hierzu einen Beitrag geleistet hat, zeigt nicht zuletzt die Auszeichnung von „Die Gedächtnislosen“ 2018 mit dem Preis des Europäischen Buches: Der Preis verfolgt das Ziel, die europäischen Werte zu fördern und dazu beizutragen, dass Europa den Bürger*innen nähergebracht wird.

[HBR]

Schwarz