„Ein Ort, der deutlich macht, wie kostbar jedes Menschenleben ist“
Zeitzeugen-AG gestaltet Gedenken zum Volkstrauertag

16-Jährige und der Volkstrauertag? Dass das Gedenken an die Opfer von Kriegen, Terror und Gewalt für sie von brennender Aktualität ist, haben Mitglieder der Zeitzeugen-Arbeitsgemeinschaft des Einstein-Gymnasiums am Sonntag (14. November) auf eindrucksvolle Weise auf dem Ehrenfriedhof deutlich gemacht. Mit einem tiefgründigen Sprechtheater holten sie den Volkstrauertag in die Gegenwart und gaben den politisch Verantwortlichen eine Aufgabe mit auf den Weg: Ein Ort, der heute noch bewegen und erinnern soll an den Krieg und seine Opfer, der muss aus ihrer Sicht ganz anders aussehen als der Ehrenfriedhof in seiner derzeitigen Form. Stilvoll umrahmt wurde die Gedenkfeier von Lea Balzar und Michael Klett an der Violine.

„Es geht nicht nur um Krieg oder Frieden“, macht Oberbürgermeister Toni Vetrano in seiner kurzen Einführung in die Gedenkstunde deutlich. Vielmehr gehe es darum, wie „wir miteinander leben, gewaltfrei miteinander leben wollen“, bereitet er den Schülerinnen und Schülern aus der zehnten Klasse den Weg. Diese lassen den Architekten des Ehrenfriedhofs, Robert Tischler (Justin Schabert), zurückkehren und seine Sicht auf die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs darstellen, seine Beweggründe, den Friedhof wie eine Burg, eine Festung zu gestalten.

Und weil die Schülerinnen und Schüler, aber auch die allermeisten der Zuhörerinnen und Zuhörer, den Krieg nicht mehr erlebt haben, holen sie die Schrecken von damals zurück, indem sie Zeitzeugen-Interviews abspielen. Aus einem alten Radio dringen die Stimmen von Kehlerinnen und Kehler, die von ihren Erlebnissen und Empfindungen am 25. September 1944 berichten, als Bomben auf Straßburg und Kehl fielen.

Spricht der Ort niemanden mehr an, weil die Menschen heute zu verwöhnt sind von einem Leben in Frieden und Freiheit? „Nein, die Welt brannte und brennt weiter“, halten die Sprecherinnen dem Architekten entgegen und zählen auf: „In Jugoslawien, im Irak, im Sudan, in Syrien, in Afghanistan, im Jemen, starben Hunderttausende.“ Und als sich der Architekt darauf berufen möchte, dass diese Kriegsherde weit weg sind, spielen die Sprecherinnen Meldungen ab, über Terroranschläge, über Radikalisierung und Gewalt in Deutschland: die Morde des NSU, der Mord an Walter Lübke, die Anschläge von Hanau und Halle, 1900 antisemitisch motivierte Straftaten 2019.

Ergänzt wird das Sprechtheater immer wieder von Passagen aus einem berührenden Gedicht, das Lucie Oestereich geschrieben hat und Lara Balassa vorträgt. Am Ende tritt eine Zeitzeugin auf, die selber Krieg und Flucht erleben musste: Die 18-jährige Sabahat Khanjare erinnert an die aktuelle Situation in Afghanistan, bedankt sich für ihre Aufnahme in Deutschland und bittet die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, den Menschen in ihrem Heimatland zu helfen und vor allem die Mädchen dort nicht ihrem Schicksal zu überlassen.

Wie ein Ort aussehen müsste, der noch bewegt und an die Opfer von Kriegen, Terror und Gewalt erinnert, davon haben die Jugendlichen konkrete Vorstellungen entwickelt: Er darf nicht „so traurig und kühl“, „so abweisend“, „so leer und unpersönlich“ aussehen. „Man kommt sich so verloren vor.“
Es sollte „Kunstwerke geben, gegen Hass und Gewalt“, „die Toten müssten ein Gesicht, ein Bild, ihre persönliche Geschichte bekommen“, tragen die Sprecherinnen vor.
„Ich vermisse Blumen, einen erkennbaren Eingang, der nicht verschließt.“
„Es fehlen Tafeln mit Informationen über diesen Platz. Ein Lernpfad, der hierherführt.“
„Ein Teich mit Seerosen, ein Spiegel, in den wir schauen können.“
„Ein neu gepflanzter Baum für jeden gelösten Konflikt, ein symbolisches Kreuz für jeden neuen.“
„Keine massive Steinbrücke, sondern Bänke, für diejenigen, die noch heute zum Trauern hierherkommen.“
„Einen umgebenden Zaun mit Latten in den Farben aller Nationen, die in den Kriegen Menschen verloren haben.“
„Kein Heldenfriedhof, kein Ehrenmal, sondern einen Ort, der deutlich macht, wie kostbar jedes Menschenleben ist.“

Tief beeindruckt und „unsagbar dankbar“ zeigt sich OB Toni Vetrano am Ende der Darbietung der Jugendlichen und dafür, dass sie „die Frage nach der Zukunft des Ortes aufgeworfen haben“. Auch wenn es am Volkstrauertag sehr ungewöhnlich ist, erlaubt er einen Applaus – eine Aufforderung, der die Teilnehmenden an der Gedenkstunde gerne nachkommen.
Der Oberbürgermeister verliest das Totengedenken, steigt zum Ehrenmal auf und legt dort den Kranz nieder.

An der Präsentation zum Volkstrauertag haben mitgewirkt: Simone Zieger, Ellinor Felker, Leonie Geiler, Emilie Buchert, Mia Hauß, Pauline Kelly; Neele Por, Lara Weber, Lucca Schweiger, Maja Sansa – alle aus der Zeitzeugen-AG sowie als weitere Sprecher: Justin Schabert und Lara Balassa.

[Annette Lipowsky, Stadt Kehl, 14.11.2021]

Das Skript der Veranstaltung kann hier heruntergeladen werden.

Fotos: Stadt Kehl