Kurt Salomon Maier als digitaler Zeitzeuge im „Einstein“
Zwei 9. Klassen des Einstein-Gymnasiums nahmen an einem besonderen interaktiven Zeitzeugen-Interview teil

Kurt Salomon Maier hat die Hände vor dem Bauch gefaltet und blickt aus einem breiten Sessel neugierig in die Klasse – er wartet darauf, befragt zu werden. Dabei ist der 92-Jährige tatsächlich gar nicht an diesem Morgen im Einstein-Gymnasium anwesend. Sein digitales Zeitzeugnis schaut die Neuntklässler*innen stattdessen an. Noch handelt es sich um einen Probelauf, aber im September dieses Jahres soll das Zeitzeugnis von Kurt S. Maier lebensgroß in 2D in Frankfurt zu sehen sein.

Das Interview ist Teil eines ambitionierten Versuchs, die Befragung von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen auch für künftige Generationen zu ermöglichen. Denn mit jedem Jahr wird die Zahl derer, die überhaupt noch Zeugnis über die Ausgrenzung und Verfolgung im „Dritten Reich“ ablegen können, immer kleiner. Es sind überwiegend die damaligen Kinder, die sich heute im hohen Alter noch zurückerinnern und über ihr Schicksal berichten können.

Der gebürtige Kippenheimer Kurt S. Maier war 10 Jahre alt, als er und seine Familie aus ihrem Heimatdorf deportiert wurden. Das Deutsche Exilarchiv 1933-1945 der Deutschen Nationalbibliothek hat ihn ausgewählt für dieses besondere Projekt: In Kooperation mit der USC Shoah Foundation wurde Herr Maier als Zeitzeuge in Washington D.C. befragt, wo er bis heute in der Kongressbibliothek arbeitet. Fünf Tage lang stand er Rede und Antwort und wurde in einer Greenscreen-Umgebung von Kameras gefilmt und aufgenommen. 900 Fragen hat er so beantwortet, die als einzelne Videoclips gespeichert wurden.

An diesem Morgen treten nun im Einstein-Gymnasium einzelne Neuntklässler*innen nach vorne an ein Mikrofon und sprechen ihre Frage ein. Eine Spracherkennungssoftware ordnet über Suchbegriffe der Frage eine Antwort von Kurt S. Maier zu, die dann abgespielt wird. So entsteht die für die Zeitzeugen-Befragung charakteristische Frage-Antwort-Interaktion – auch wenn der Zeitzeuge nicht lebendig vor Ort ist, wirkt doch bereits die D2-Projektion faszinierend lebensecht. Vorbereitend hatten die Schüler*innen Gelegenheit, sich mithilfe eines Themenhefts über die Biografie des Zeitzeugen zu informieren und kleine Präsentationen zu gestalten, über seine Kindheit in Kippenheim, die Deportation und schließlich seine Zeit im Exil – Kurt S. Maier überlebte das Lager Gurs und konnte mit seiner Familie in die USA emigrieren. Das Deutsche Exilarchiv 1933-1945 legt gerade auch auf diese Erfahrungen besonderen Wert.

Die Fragen der Schüler*innen betrafen ganz unterschiedliche Themen, die die Projektion von Kurt S. Maier meist sehr persönlich und anschaulich beantwortete – z.B. über die einfachen Lebensverhältnisse in Kippenheim in seiner Kindheit, wo die Wäsche noch im Kessel gewaschen wird. Er wiederholte seinen Ruf „Ich bin’s!“, mit dem er seine Eltern in ihrem „Lädele“ darauf hingewiesen hat, dass er beim Betreten die Klingel ausgelöst hat und kein Kunde. Er erklärt auf Nachfrage, was „koscher“ bedeutet, wie er den Tag des Novemberpogroms erlebt hat, wie schwer es für ihn war, sich in der Fremde zu integrieren: „Ich habe immer noch das Gefühl, im Exil zu wohnen – nach 81 Jahren in Amerika.“

Natürlich bestand auch ein besonderer Reiz für die Schüler*innen darin herauszufinden, ob Kurt S. Maier ihnen auf ihre Frage eine passende Antwort geben kann. Das klappte noch nicht immer, aber gerade dafür ist dieser Testlauf eben auch gedacht. Die betreuenden Projektmitarbeiterinnen Vanessa Gelardo und Lisa Eyrich halten im Systemprotokoll fest, wo die Zuordnung von Frage und Antwort noch verbessert werden kann.

Bei den Schüler*innen am „Einstein“ hat das Projekt in jedem Fall Eindruck hinterlassen und wurde sehr positiv aufgenommen. Gerade die Nähe und der anschauliche Zugang zu einem individuellen Schicksal wurden hervorgehoben. Und selbst, dass Kurt S. Maier nicht immer die passende Antwort lieferte, sah man als Gewinn: „Man lernt noch mehr, als man eigentlich lernen wollte“, so das Fazit eines Schülers.

[HBR]