State of the Union: Einsteiner lauschten der wichtigsten Rede des Europaparlaments

Wir haben uns entschieden uns um 7:12 vor dem Rathaus zu treffen um morgens zum Europaparlament zu fahren. Obwohl ich mich zuerst ein wenig schlecht gefühlt habe diese frühe Uhrzeit auszusuchen hat sich dies doch als Segen herausgestellt, da die Tram, in die wir hätten umsteigen müssen, so überfüllt war, sodass wir, als 7-Köpfige Gruppe, unmöglich hätten reingepasst. Wir haben dann, in Hoffnung auf weniger Überfüllung, eine alternative Route mit Bus & Tram genommen und sind trotzdem pünktlich angekommen.

Die Rede, die sogenannte State of the Union Address (Auch State of the European Union Address, im weiteren Verlauf SOTU), konnte in zwei Teile gegliedert werden: der erste Teil war eine einstündige Rede von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zur Lage der Europäischen Union und im zweiten Teil konnten angemeldete Fragen gestellt werden auf welche Ursula von der Leyen reagieren musste.
Aufgrund von mittelmäßiger Organisation seitens des Europäischen Parlaments haben wir den ersten Teil der SOTU nicht ganz mitgekriegt. Was wir aber mitgekriegt haben sind die angemeldeten Fragen der Abgeordneten.

Die Redezeit von den Abgeordneten wird auf die verschiedenen Fraktionen entsprechend ihrer Größe eingeteilt. Eine Fraktion ist eine Gruppierung von politischen Parteien die gemeinsam (in den meisten Fällen geeinigt) ihre Interessen und politische Ansichten im Europaparlament vertreten. Es gibt sieben Fraktionen und die Fraktionslosen. Diese sind:

Fraktion

Ausrichtung

Sitze im EP

Davon Deutsche Abgeordnete

EVP (Europäische Volkspartei)

Christdemokraten, Konservative

176 Sitze

23-CDU
6-CSU
1-Familie

S&D (Fraktion der progressiven Allianz der Sozialdemokraten)

Sozialisten, Sozialdemokraten

145 Sitze

16-SPD

Renew Europe

Liberale, Zentristen

103 Sitze

5-FDP
2-FW

Grüne/EFA (Europäische Freie Allianz)

Grüne, Regionalisten

72 Sitze

21-Grüne
1-Piraten

1-ÖDP
1-Volt
1-Parteilos

ID (Identität & Demokratie)

Rechtspopulisten. Rechtsextreme

65 Sitze

9-AfD

EKR (Europäische konservative Reformer)

Konservative, EU-Skeptiker

64 Sitze

1-LKR

GUE/NGL (Die Linke)

Linke, Kommunisten, Linkssozialisten

38 Sitze

6-Die Linke

Fraktionslos

-

42 Sitze

1-Die PARTEI

1-Zentum
1-Parteilos


(Absteigend nach Sitzen, stand 20.02.2020, Ausrichtung von Wikipedia übernommen (Fraktion im Europäischen Parlament – Wikipedia))

Die Abgeordneten der Fraktionen haben alle inhaltlich unterschiedliche sowie auch ähnliche Kommentare zu der Rede von Ursula von der Leyen geäußert.

Von der Seite der EVP wird die Arbeit der Kommission in den letzten Jahren gelobt und einige Ausblicke werden gestellt:

Frances Fitzgerald (Irland, Fine Gael) behauptet: „Europa steht vor eine Krise (…) aber Europa reagiert immer besser auf Krisen und wir sind entschlossen das wieder zu tun.“ Sie fordert „entschieden zu handeln“ und dankt Ursula von der Leyen für ihr Leadership. Dolors Montserrat (Spanien, PP) gibt dem Parlament die Worte auf den Weg: „Es gibt einen wichtigeren Energieträger als Kohle und Gas, das sind unsere europäischen Werte“. Über den EU-Beitritt der Ukraine kommentiert der Abgeordnete Siegfried Mureșan (Rumänien, Partidul Naţional Liberal): „Lange bevor der Beitritt [der Ukraine] möglich sein wird, werden wir daran arbeiten die Ukraine in den Binnenmarkt zu integrieren und mehr Möglichkeiten schaffen um die Ukraine aufzubauen (…) [sowie] mehr und schnellere Maßnahmen um die Bürger zu unterstützen (…). Das ist repower EU“

Die Abgeordnete Gaby Bischoff (Deutschland, SPD, stv. Vorsitzende S&D) sagt zu Beginn Ihrer Rede zu der Wirtschaftlichen Lage: „Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst der Rezession“.

Die Renew Europe Fraktion gibt ihre Meinung über die Lösung der aktuellen Krisen in Europa wieder:

Die Abgeordnete Dita Charazová (Tschechien, ANO 2011) kommentiert dazu: „Es gibt einen deutschen, spanischen, französischen Weg. (…) Wir müssen entscheiden was wir als Europa brauchen“. Malik Azmani (Niederlande, Volkspartij voor Vrijheid en Democratie) findet: „Die EU muss die [benötigten] Waffen an die Ukraine liefern um [bez. des Ausgangs des Kriegs] erfolgreich zu sein.“. Zur wirtschaftlichen Situation und der Krise sagt er: „Das deutet alles auf einen Mann hin, der dafür verantwortlich ist: Putin“, „Wir haben bei Renew ein Konzept für die Rettung (…) der Markt weiß am besten wo die Mittel zugeteilt werden. (…) Wir wollen den Markt arbeiten lassen, wir wollen ihn nicht verzerren“. Hilde Vautmans (Belgien, Open Vlaamse Liberalen en Democraten) kritisiert und fordert zur Kommission: „Es wundert mich, dass sie nichts über die europäische Verteidigung gesagt haben. (…) Wenn wir Europas Platz stärken wollen müssen wir das Mehrheitsvotum abschaffen“

Ska Keller (Deutschland, B90/Die Grünen, Die Grünen/EFA) äußert sich zum Angriffskrieg Russlands: „All together, we must face this atrocious aggression with determination and with courage, just as Ukraine is showing us. Europe needs to support and continue to support Ukraine in their fight for peace and self-determination and even scale up those efforts.” Zur Wahl in Italien wendet sie sich an MdEP Manfred Weber (Fraktionsvorsitzender EVP) bezüglich dem Rechtsextremismus: „Looking at Italy, you are playing a risky game with democracy and our shared values – a game that could backfire on all of us. A group that claims to be part of the democratic majority should not partner with people who wear Putin-fancier shirts nor parties with fascist logos. (…) It is a bit awkward that I say this as a Green, but the centre right has a very important role to play in Europe and part of this (…) is to ward off the extreme right”

Die ID kritisiert die Politik der letzten Jahre, dabei gehen sie u.a. auf die Lockdownpolitik, Migrationspolitik und Energiepolitik ein.

Marco Zanni (Italien, Lega) geht in seiner Rede auf die vorgehende Rede von MdEP Ska Keller (Die Grünen/EFA) ein: „Der normale Bürger hat keine Angst vor einer Faschistischen Bedrohung“. Zur Energiepolitik fordert er: „Es muss schnell gehandelt werden angesichts einer kritischen Situation (…) Die Deckelung der Gaspreise ist das Einzige, was den europäischen Bürger noch schützen könnte.“ Harald Vilimsky (Österreich, Freiheitliche Partei Österreichs) bewertet die Coronapolitik: „Die Lockdownpolitik hat unseren Wohlstand vernichtet.“ Über die Russischen Sanktionen sagt er: „Der Sanktionenwahnsinn verhindert den Frieden und gefährdet den Wohlstand“. Jordan Bardella (Frankreich, Rassemblement national) äußert sich zur Energiepolitik und dem europäischen Zusammenhalt: „Wir haben einen unnötigen Krieg gegen die Kernenergie geführt, nur weil die Grünen es wünschen. (…) [zu der Situation in Azerbaijan, an Ursula von der Leyen] Überall sind die europäischen Bürger wütend und sie fragen: „was haben Sie aus dem europäischen Traum gemacht?““. Ähnlich findet das Gerolf Annemans (Belgien, Vlaams Belang). Er bewertet den European Green Deal als Hetze. Zum Thema Migrationspolitik sagt er: „Die EU (…) [hat] mit der Massenmigration unsere Kultur zerstört.“ Außerdem sei die EU laut ihm nicht die Lösung, sondern das Problem. Gunnar Beck (Deutschland, AfD) äußert sich mit Zahlen zur Migrationspolitik: „Jetzt soll der EU-Migrationspakt noch dutzende Millionen Migranten zu uns holen. Jeder Einzelne davon kostet uns nach einer dänischen Studie über 600 000 Euro. Das Geld dafür druckt die EZB, und Geldmengenzuwachs und Euro-Verfall bedeuten noch mehr Inflation.“.

Die EKR war in ihrer Haltung nicht eindeutig. Zum einen haben gewisse Abgeordnete die Rede von Frau von der Leyen gelobt, auf der anderen Seite aber auch kritisiert.

Der Abgeordnete Roberts Zīle (Lettland, Nacionālā apvienība "Visu Latvijai!"-"Tēvzemei un Brīvībai/LNNK) kommentiert: „Das war die beste Rede zur Lage der Union, seitdem ich in diesem Parlament war“. Außerdem fordert er: „Es ist wichtig, dass wir der Ukraine ein Zeichen setzen. (…) Es ist klar, dass wir unter diesen Umständen das Verhalten Russlands verurteilen. Wir müssen die Ukraine unterstützen mit Worten und mit Taten. (…) Wir müssen außenpolitisch geeinigter handeln als davor. (…) Wir müssen die Nato stärken.“ Auf der anderen Seite behauptet er auch: „Wir müssen [bei den Sanktionen] achten, was das für Auswirkungen auf das alltägliche Leben hat“. Kritik gab es aus der EKR-Fraktion unter anderem von Beate Szydło (Polen, Prawo i Sprawiedliwość (PiS)): „Warum sprechen die Sozialisten nur über Demokratie in Ungarn? Über welche Demokratie reden wir hier? Die Deutsche? Sollte Demokratie nicht bedeuten, dass man die Wahl der Bürger achtet? Es geht doch bei Rechtsstaatlichkeit [darum], dass man die Verträge achtet. (…) Es herrscht ein Krieg an unseren Grenzen, wir müssen jetzt auf das solidarische achten.“ Außerdem kritisiert sie Deutschland: „Ein Ex- Bundeskanzler war Unterstützer Putins“.

Von den Fraktionslosen haben unter anderem zwei außergewöhnliche Abgeordnete geredet.

Der erste Abgeordnete, auf den ich in diesem Kontext eingehen möchte, ist Martin Sonneborn (Deutschland, Die Partei DIE PARTEI). „Frau Präsidentin, sehr geehrte Frau von der … Leyen!“ „Mir fällt zum Zustand der EU nichts ein“ Zum Ende seiner Rede sagt er: „Mir fällt zu der EU nichts mehr ein, außer: Wir sollten Europa nicht den Leyen überlassen“. Der andere außergewöhnliche Abgeordnete ist Lefteris Nikolaou-Alavanos (Griechenland, Kommunistische Partei Griechenlands). Zum Krieg in der Ukraine bewertet er: „Die Europäischen Monopole führen einen imperialistischen Krieg gegen Russland. (…) Es handelt sich [bei den Maßnahmen der EU] um eine kapitalistische Ausbeutung. (…) Wir müssen aus der EU austreten.“

Die Linke GUE/NGL haben die Kommission sehr kritisiert. Dabei wurde eine Ablehnung gegen das System und eine Kapitalismuskritik deutlich. Die Fraktionsvorsitzende Manon Aubry (Frankreich, La France Insoumise) spricht: „Ich bin hier her gekommen mit den Rechnungen, die mir die Bürger gesagt haben ihnen zu zeigen. [Ein Bürger], er weiß nicht ob er diesen Winter heizen kann. Brigitte, Sie muss entweder heizen oder essen. Brigittes, davon gibt es Millionen, Millionen, die diesen Preisen nicht standhalten können während die Dividenden der Aktionäre um 29% gestiegen sind. (…) Es sind 80% die Probleme haben während Millionäre zwischen Paris und Ibiza fliegen können oder in einer Dürrekrise ihren Golfplatz bewässern können.“ Frau Aubry kritisiert im verlauf alle „Unternehmen, die von der Krise profitiert haben“. Wirtschaftspolitisch fordert sie: „Wir müssen wirklich die Preise deckeln auf einem Niveau von Zeiten vor der Krise. (…) Frau von der Leyen, (…), eigentlich sind Sie gefangen in einem Modell das nicht funktioniert: in dem Modell der liberalen Politik“ Der Abgeordnete Dimitrios Papadimoulis (Griechenland, Coalition oft he radical Left) sagt zur Krise ähnlich: „Wir wissen, dass die Firmen massive Profite einräumen gleichzeitig mit dem Leid der Bürger“.

Ursula von der Leyen antwortet zu den Reden der Abgeordneten. Zuerst bedankt sie sich für die eindeutige Unterstützung und den Konsens im Parlament die Ukraine zu unterstützen. „Es gibt keinen Zweifel darüber, dass es Putin ist der diese Krise ausgelöst hat.“. Zu Hilde Vautmans (Renew), die die europäische Verteidigungspolitik kritisiert hat antwortet sie:“ Ich verstehe ihre Anmerkungen. Wir haben viel getan um eine europäische Armee zu schaffen. Wir haben alle Mittel geschaffen und jetzt geht es um die Umsetzung.“ Zu den Rechnungen von Aubry (Linke) entgegnet sie: „But when I look at Madam Aubry, the bills you have shown to us – yes in French, you would say ils sont insupportables. This is right. But you know what? Send those bills to Moscow. That’s where they belong to, that’s where the source is.”

Aubry reagiert darauf kritisierend: „Die Antwort von ihnen ist, dass die Europäer ihre Rechnung an Putin schicken sollen. (…) Er ist verantwortlich für den Krieg in der Ukraine, aber Sie sind verantwortlich für die europäischen Bürger“.

Als letzter Redner hat Fraktionsvorsitzender Manfred Weber (Detuschland, CDU, EVP) der Abgeordneten Ska Keller (Grüne/EFA) geantwortet. Zuerst bedankt er sich für ihre positiven Worte über die Rolle von mitte-rechten Mehrheitsparteien wie der EVP in der Europäischen Politik. Anschließend geht er auf ihren Punkt bez. der Kooperation mit rechtsextremen Gruppen ein. Er fordert in dem Kontext die Debatte über pro-Europäer und Euroskeptiker nicht zu politisieren: es gibt laut ihm Antieuropäische Gruppen auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Er stimmt ihr mit Selbstverständnis zu, dass man den Status der Italienischen Regierung bestehend aus der Fünf-Sterne-Bewegung und der Lega kritisieren muss. Zuletzt möchte er zu Ihrer Kritik ein Argument zurückgeben: „I give you another argument: dear Ska, you had a coalition in France to do campaigning together with Mélenchon. Mélenchon publicly said that we do not respect European law any more if we come in office. That was the position of Mélenchon“.

Danach hat die Präsidentin des Europäischen Parlaments Roberta Metsola (Malta, Partit Nazzjonalista, EVP) die Sitzung beendet und wir haben das Parlament verlassen.

Ich finde es war ein sehr Lehrreicher Ausflug, da wir viel erlebt haben und im Zentrum der Europäischen Demokratie die Debatten verfolgen konnten, die unser alltägliches Leben beeinflussen. Von meiner Seite aus war ich öfters im Europäischen Parlament aber leider immer außerhalb der Plenarzeiten. Ich kann es jedem nur ans Herz legen einen Besuch zum Europäischen Parlament zu unternehmen. Man kann jederzeit während den Öffnungszeiten unangemeldet reingehen (natürlich mit Durchsuchungen auf Flughafenniveau+) und sich alles anschauen. Die Fahrt mit der Tram ist nicht lang. Ich empfehle jedoch sich darüber zu informieren wann Sitzungszeiten sind, da das bei einem Ausflug zum Europaparlament das eindeutige Highlight wäre.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit beim Lesen meines Berichtes! Ich möchte diesen Bericht mit den Schlussworten Ursula von der Leyens beenden:

„Long live Europe“ / „Lang lebe Europa“

Philip Fahrer 23.09.2022