Eine einzigartige Stimme gegen das Vergessen

Esther Bejarano hat die nationalsozialistische Verfolgung überlebt, und das obwohl sie als Jüdin am 20. April 1943 nach Auschwitz deportiert wurde. Heute ist sie 93 Jahre alt und steht regelmäßig auf der Bühne mit ihrem Sohn Yoram und der deutsch-türkisch-italienischen Rapgruppe „Microphone Mafia“. So auch vergangene Woche zunächst abends vor einem älteren Publikum und dann gleich am nächsten Morgen vor Schülerinnen und Schülern der Tulla-Realschule und des Einstein-Gymnasiums in der Aula des Schulzentrums. Beide Auftritte haben die Zuhörer nachhaltig beeindruckt: Mit welcher Energie, Lebenskraft und Weltoffenheit trat hier eine Frau auf, die doch ihren Lebensabend ohne diese Anstrengungen verbringen könnte. Zeitzeugen, die heute ihr Schicksal an jüngere Generation über den Holocaust weitergeben können, gibt es nur noch wenige. Aber eine Zeitzeugin, die mit einer Rapgruppe durchs Land zieht, ist vermutlich einzigartig.

Am Beginn des Konzerts stand zunächst ein Vortrag, indem Esther Bejarano einen Abschnitt ihres leidvollen Lebenswegs erzählte. Mit ihrer klaren Stimme berichtete sie von ihrer Deportation und der Ankunft in Auschwitz. Dabei fasst eine „Einstein“-Schülerin zusammen, was bereits am Abend zuvor vor hunderten Besuchern der Fall war: 

"Jeder war leise. Es hat jeden interessiert."


Wie Frau Bejarano in Auschwitz überleben konnte, hat sie auch in einem SPIEGEL-Interview festgehalten:

„Abends baten mich die Blockältesten immer, ob ich ihnen etwas vorsingen könne. Die wussten, dass ich gut singen kann. Ich kannte viele Lieder, von Schubert etwa oder von Mozart. Und die Blockältesten erzählten offenbar auch der Tschaikowska von mir, das war eine Musiklehrerin, die den Auftrag hatte, ein Orchester in Auschwitz aufzubauen. Jedenfalls kam sie eines Abends zu mir und fragte, ob ich ein Instrument spielen könne. Ich sagte: „Klavier.“ Sie: „Das haben wir nicht, wir haben aber ein Akkordeon.“ Also habe ich geantwortet: „Ja, ich kann Akkordeon spielen.“ Was gar nicht stimmte.

Das Akkordeon, so sagte sie, sei ganz wichtig für das Orchester. Und sie forderte mich auf: „Spiel mir mal den deutschen Schlager 'Du hast Glück bei den Frauen, Bel Ami'.“ Ich habe ihr dann gesagt, dass ich lange nicht mehr Akkordeon gespielt hätte und kurz üben müsste.“

[Quelle: http://www.spiegel.de/einestages/kz-auschwitz-holocaust-ueberlebende-berichten-esther-bejarano-a-1012145.html]


Als Akkordeonspielerin wurde Esther Bejarano in das Mädchenorchester Auschwitz aufgenommen, das beim Ein- und Ausmarschieren der Arbeitskolonnen aus dem Lager spielen musste. Frau Bejarano überlebte den Terror und die Schrecken des Lageralltags, überlebte eine Typhus-Erkrankung, überlebte auch das Konzentrationslager Ravensbrück, in das sie später verschleppt wurde, und auch die Todesmärsche in der Endphase des Krieges. Jetzt steht sie regelmäßig auf der Bühne vor jungen und alten Menschen – gemeinsam mit einer Rapgruppe.

Kutlu Yurtseven von der „Microphone Mafia“ übernahm nach der Lesung die Regie: Das Thema ‚Ausgrenzung‘ ist dem Sohn türkischer Einwanderer nicht fremd. Als Schauspieler, Rapper, Sozialarbeiter in Köln kämpft er seit Jahrzehnten gegen Rassismus und Abschottung. Mit Bejaranos Sohn Yoram bilden Frau Bejarano und er ein einmaliges Trio, das Brücken zwischen Kulturen, Generationen und Erfahrungen schlägt – mithilfe der Musik. Die Kraft der Musik und des Gesangs, der Wille zum Aufrütteln und Mitreißen war in allen Liedern spürbar, die sie gemeinsam deutsch, türkisch, italienisch und jiddisch sangen. Ob modern interpretiertes Volks- und Arbeiterlied, Ballade oder Rapsong – Esther Bejarano, Yoram und Kutlu Yurtseven strahlten ihre Botschaft gegen Vorurteile, Militarismus, Fremdenhass und Rassismus mit Nachdruck aus.


Das hat auch die Schüler beeindruckt, wie eine kleine Auswahl von Stimmen zeigen kann:

"Ich konnte von dem türkischen Text echt jedes Wort verstehen..."
"Man hat gemerkt, es war echt."
"Die Mischung aus Lektüre aus Erinnerungen und dem Teil mit der Band, das war irgendwie gut..."
"Ich hätte gern noch gewusst, wie die Frau es geschafft hat, jetzt so fröhlich zu sein und nicht total deprimiert."
"Wie kann das sein, wenn man so Schlimmes erlebt hat?"
"Ich fand das toll, wie sei als ganze Familie so was machen."


Warum Esther Bejarano mit 93 Jahren nach wie vor auf die Bühne steht und die Mühen hunderter Auftritte auf sich nimmt, hängt schließlich auch mit der Entwicklung der vergangenen Jahre in Deutschland zusammen. Nicht zuletzt der Siegeszug der AfD, rechtspopulistischer Positionen und die Erinnerungskultur untergrabende Parolen treiben sie dazu an, ihre Stimme nicht schweigen zu lassen. Deshalb saß Esther Bejarano auch schon am gleichen Abend bei Anne Will zu Gast: „Holocaust-Gedenken – wie antisemitisch ist Deutschland heute?“ lautete der Titel der Sendung.

 
Beatrix Wenzel, die die Veranstaltung mit ihren Schülern begleitet hat, dankt auch dem Förderverein des Einstein-Gymnasiums für die großzügige Unterstützung sowie allen Organisatoren, darunter Bernadette Thomas sowie der Schulleitung der Tulla-Realschule als auch dem Club Voltaire. Thematisch zu dieser Veranstaltung gehört die Exkursion in das Konzentrationslager Struthof am 11. April mit allen 9. Klassen.

[HBR]